LEBST DU NOCH, ODER SCHEITERST DU SCHON?
Aufrichtigkeit, Weisheit, Geduld, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Bescheidenheit...

Wer auf dieser Welt ist eigentlich der Mensch mit den meisten positiven, tugendhaften Eigenschaften? Dem, der hier an seinen Partner denkt, empfehle ich, diesen umgehend bei der nächsten Pfahlsitzweltmeisterschaft im Heide-Park Soltau anzumelden (der Rekord liegt bei 196 Tagen). Wer glaubt, er sei womöglich selbst dieser tugendreichste Mensch, dem kann ich eins mit Sicherheit verraten: Er ist ein Depp. Was also bleibt ist folgende Frage: „Zum Teufel, warum bin ich eigentlich nicht derjenige welcher?“ Könnte man doch von jetzt auf gleich beschließen, sich tugendhaft perfekt zu verhalten. Man bräuchte weder Geld dazu, noch bedürfte es Kanönchen oder gar Kanonen. Nicht einmal sexy Bewerbungsfotos sind von Nöten.
Also wo liegt die Hürde, die es zu überspringen gilt? Man kommt nicht umhin anzuerkennen, dass die allermeisten Menschen an moralischem Perfektionismus gar nicht interessiert sind. Möglicherweise ist es mit den Ansprüchen an sich selbst wie mit dem Fuchs und den Trauben: All dem, was zu hoch hängt wird einfach der Reiz abgesprochen. So wie der Fuchs vergeblich versucht, die Trauben zu erreichen, haben wir doch alle diverse missglückte Versuche hinter uns, tapfer, aufrichtig, fleißig oder gerecht zu sein. Und kaum wird einem die Ausweglosigkeit seines Unterfangens bewusst, definiert man einfach ein neues Ziel.

Bloß warum kommt man überhaupt auf die Idee, irgendwelchen hehren Ansprüchen an sich selbst nachzujagen? Jeder weiß doch: „Nobody is perfect.“ Dabei muss man diesen klangvollen, beruhigenden Satz fast schon als Warnung verstehen: Viele, die nach Perfektionismus streben, landen ja schließlich schon im Kindesalter dafür mit dem Gesicht im Matsch. Im späteren Leben umkurven die Perfektionisten deshalb dann jede Matschpfütze weiträumig. Solche, die ein hohes Ideal von sich selbst haben, verlangen dieses auch ihrem Umfeld ab – was sich daraufhin nicht selten rar macht. Weisheit, Geduld und Gerechtigkeit – das geht schwer zusammen mit „Verlieben, Verloren, Vergessen, Verzeihen.“

Trotzdem haftet uns allen der Drang an, sich tugendhaft zu verhalten. Auch denen, die es nicht tun – zu denen ich mich auch zähle. Wir fühlen uns schlecht, wenn wir das Gefühl haben uns „falsch“ verhalten und die „richtige“ Entscheidung ignoriert zu haben. Der Weg zurück zur guten Laune führt dann nicht selten darüber, das Fehlverhalten als Teil unseres Menschseins akzeptieren. Wir schauen uns um und stellen fest: die anderen sind auch nicht besser. So sehr, wie es uns deprimiert, wenn alle Welt glücklicher ist als man selbst, so sehr kann es beruhigen zu sehen, wie um einen herum die Werte des Abendlandes in der Pfeife geraucht werden. „Mein Kumpel betrügt seine Freundin? Dann wird es ja irgendwie auch in Ordnung sein, wenn meine Hosen von 12jährigen Inderinnen zusammengenäht werden.“ Klingt abwegig? Ist es auch. Oder doch nicht?

Mit all dem, was in unserem Umfeld schief läuft, sinkt gefühlt der Druck auf uns selbst, es „richtig“ zu machen. Die Hemmschwelle wird kleiner, sich einfach zurückfallen zu lassen und inkognito im Strom der gleichgültigen Menge unterzugehen. Das ist das eine.
Die andere Möglichkeit wäre, zu versuchen, gegen den Strom zu schwimmen. Man wird den Lauf der Dinge damit ganz bestimmt nicht umkehren. Es könnte sich das Gefühl einstellen, jahrelang auf der Stelle zu rudern, während alle anderen sich meilenweit entfernen. Wahrscheinlich wird man immer wieder auf‘s neue feststellen müssen, dass man an seinen Ansprüchen gescheitert ist, scheitert und scheitern wird.

Aufrichtigkeit, Weisheit, Geduld, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Bescheidenheit...

Wer möchte nicht daran glauben, dass die Welt eine bessere wäre, wenn sie nach diesen Maßgaben funktionierte. Doch das sind Worte, die schon auf dem Papier nach unerfüllbarem Ideal klingen. Nach Anforderungen, die uns schon beim Lesen ein schlechtes Gewissen bereiten. Wenn es darum geht, diesem Ideal gerecht zu werden, sind wir – mit all unseren Bedürfnissen und Ängsten – dafür gebaut, grandios zu scheitern. Was wir aber, das glaube ich zumindest, in der Hand haben, ist der Wille es zu versuchen. Und wenn wir uns dafür entscheiden, es zu versuchen, dann sollten wir das Scheitern vielmehr als Belohnung, denn als Makel betrachten. Jedes Scheitern ist der hart erkämpfte Beweis dafür, es versucht zu haben.

Das Es-Immer-Wieder-Versuchen ist vielleicht der moderne Inbegriff der Tugend schlechthin... in einer westlichen Welt, in der sich das fade Leben wie eine schwere Bettdecke auf unsere bürostuhlgebeugten Körper legt und behauptet, das unheimliche Geräusch da draußen vorm Fenster, das wäre doch nur der Wind. Das himmlische Kind.